Über 14.000 Ansprüche von Geschädigten des „Dieselgate“ in einer einzigen Klage, eine Klageschrift von mehreren zehntausend Seiten, gigantische Streitwerte. Dass Volkswagen hier jedes denkbare Argument aufbringen würde, um diese Rechtsverfolgung zum Scheitern zu bringen, war klar.

Mit Hinweisbeschluss vom 23.12.2019 – 3 O 5657/18 *903* – hat das LG Braunschweig aus dem LexFox-Urteil des BGH vom 27.11.2019 die richtigen Schlüsse gezogen. Der BGH hatte in der Sache LexFox (wenigermiete.de) die Tore für neue Geschäftsmodelle auf dem Rechtsdienstleistungssektor geöffnet (dazu eine erste Einschätzung von mir auf https://www.lto.de/recht/juristen/b/legal-tech-bgh-lexfox-wenigermiete-berufsrecht-rdg-anwaelte-erfolgshonorar/; ein ausführlicher Besprechungsaufsatz folgt in der Zeitschrift „Verbraucher und Recht“ im Heft Februar 2020) und das Landgericht marschiert konsequent hindurch. In dem Hinweis beschäftigt sich das Braunschweiger Gericht mit wesentlichen Argumenten aus der bisherigen LegalTech-Debatte (siehe dazu etwa meine öffentliche Diskussion mit Martin Henssler: https://www.lto.de/recht/juristen/b/myright-weniger-miete-legal-tech-berufsrecht-anwaelte-erfolgshonorar-prozessfinanzierung-rdg/).

Juristischer Großkampfplatz Landgericht Braunschweig

Über 14.000 Ansprüche von Geschädigten des „Dieselgate“ in einer einzigen Klage, eine Klageschrift von mehreren zehntausend Seiten, gigantische Streitwerte. Dass Volkswagen hier jedes denkbare Argument aufbringen würde, um diese Rechtsverfolgung zum Scheitern zu bringen, war klar. So bot man eine internationale Großkanzlei (Freshfields) und gleich vier Rechtsgutachten renommierter Professoren, unter anderem des prominenten Kölner Hochschullehrers Martin Henssler, auf, um darzulegen, dass die ganze Art des Vorgehens unzulässig sei. MyRight – das ist doch ein Inkassounternehmen, keine Anwaltskanzlei! Man lässt sich Ansprüche von Geschädigten abtreten und arbeitet gegen Erfolgshonorar, nimmt den Anspruchstellern jedes Kostenrisiko ab. Lauter Umstände, die – vermeintlich – dagegen sprächen.

MyRight, ebenfalls vertreten durch eine internationale Großkanzlei (Hausfeld), legte dem Gericht ebenfalls vier Rechtsgutachten vor – davon eines aus der Feder unserer Kanzlei. Ein Landgericht, zwei internationale Großkanzleien, acht Rechtsgutachten. Rechtsgutachten! Dabei sollte doch das Gericht das Recht eigentlich von sich aus kennen. Wo hätte man eine solche Ansammlung juristischer Waffen schon mal gesehen?

Lange Zitate aus der LexFox-Entscheidung

Der Rechtsstreit wurde über viele Monate anhand von Schriftsätzen ausgetragen. Vermutlich hatten die Landrichter auch gehofft, ein Signal zu erhalten, wie der BGH auf dem Olymp des Rechts die Sache sehen könnte. Dieses Signal ist am 27.11.2019 gekommen und nun hat das Landgericht rasch reagiert.

Zwar stelle der BGH in der vorbezeichneten Entscheidung klar, dass nicht allein die Tatsache der Registrierung als Inkassodienstleister als solche einen Verstoß gegen § 3 RDG ausschließe, so beginnt das Landgericht seine Erörterung. Von einer Nichtigkeit nach § 134 BGB sei – so zitiert das LG Braunschweig den BGH – insbesondere dann regelmäßig auszugehen, wenn der registrierte Inkassodienstleister Tätigkeiten vornehme, die von vornherein nicht auf eine Forderungseinziehung im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG, sondern etwa auf die Abwehr von Ansprüchen gerichtet seien oder eine über den erforderlichen Zusammenhang mit der Forderungseinziehung hinausgehende Rechtsberatung zum Gegenstand hätten oder wenn das „Geschäftsmodell“ des Inkassodienstleisters zu einer Kollision mit den Interessen seines Auftraggebers führe.

Allerdings führe der BGH in der Entscheidung auch ausführlich aus, dass der Begriff der (erlaubten) Rechtsdienstleistung in Gestalt der Inkassodienstleistung (Forderungseinziehung) gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG, unter Berücksichtigung der vom Gesetzgeber mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz – in Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – verfolgten Zielsetzung einer grundlegenden, an den Gesichtspunkten der Deregulierung und Liberalisierung ausgerichteten, die Entwicklung neuer Berufsbilder erlaubenden Neugestaltung des Rechts der außergerichtlichen Rechtsdienstleistungen nicht in einem zu engen Sinne zu verstehen sei. Vielmehr sei – innerhalb des mit diesem Gesetz verfolgten Schutzzwecks, die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen (§ 1 Abs. 1 Satz 2 RDG) – eine eher großzügige Betrachtung geboten.

Veränderungen der Lebenswirklichkeit

Für die auf dieser Grundlage vorzunehmende Beurteilung, ob sich die Tätigkeit eines registrierten Inkassodienstleisters innerhalb seiner Inkassodienstleistungsbefugnis gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG halte, ließen sich nach der Entscheidung des BGH keine allgemeingültigen Maßstäbe aufstellen. Erforderlich sei vielmehr stets eine am Schutzzweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes orientierte Würdigung der Umstände des Einzelfalls einschließlich einer Auslegung der hinsichtlich der Forderungseinziehung getroffenen Vereinbarungen. Dabei seien die Wertentscheidungen des Grundgesetzes in Gestalt der Grundrechte der Beteiligten sowie der Grundsatz des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen und es sei den Veränderungen der Lebenswirklichkeit Rechnung zu tragen.

Bei Abwägung der Gegebenheiten der vorliegenden Konstellation, dürfte die Tätigkeit der Klägerin, so resümiert das Landgericht, nicht gegen § 3 RDG verstoßen. Die Tätigkeit der Klägerin richte sich jedenfalls im Wesentlichen auf die Durchsetzung – mithin Einziehung – der hier geltend gemachten Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte. Auch wenn der Beklagten zuzugeben sein möge, dass die Tätigkeit der Klägerin mit dem traditionellen Bild des Inkassodienstleisters möglicherweise wenig(er) gemein habe, überschreite die Klägerin nach vorläufiger Einschätzung des LG Braunschweig, an den Maßstäben des BGH gemessen, gleichwohl nicht den Rahmen der ihr erlaubten Rechtsdienstleistungstätigkeit.

Dies gelte insbesondere deshalb, weil die in dem vom BGH entschiedenen Fall beklagte Inkassodienstleisterin weitergehende Tätigkeiten ausgeübt haben dürfte als die Klägerin beim Landgericht. Denn in dem der vorbezeichneten Entscheidung des BGH zugrundeliegenden Fall habe die (dortige) beklagte Inkassodienstleisterin nicht allein schon bestehende Rückzahlungsansprüche aus überzahlter Miete geltend gemacht, sondern habe eine mögliche Forderung des Mieters auf Herausgabe zu viel gezahlter Miete (§ 556g Abs. 1 Satz 3 BGB) (teilweise) erst durch die von ihr erhobene Rüge nach § 556g Abs. 2 BGB aF zur Entstehung gebracht. Auch in diesem Fall, so der BGH, sei jedoch – im konkreten Fall – der Rahmen des nach § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG, § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG (noch) nicht überschritten. Berücksichtige man diese Wertung, so dürfte man vorliegend dazu kommen, dass die Tätigkeit der Klägerin jedenfalls nicht von vornherein nicht auf eine Forderungseinziehung im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG, sondern etwa auf die Abwehr von Ansprüchen gerichtet sei oder eine über den erforderlichen Zusammenhang mit der Forderungseinziehung hinausgehende Rechtsberatung zum Gegenstand habe.

Inkasso: Wahrnehmung jeder Art rechtlicher Anliegen?

Diese Überlegungen zeigen, dass das LG Braunschweig sehr genau wahrgenommen hat, wie weit die Judikatur des BGH in Sachen LexFox den Begriff des „Inkasso“ versteht. Inkasso ist nämlich nicht nur der technische Vorgang zur Realisierung einer bereits bestehenden Forderung, sondern ein Inkassounternehmen ist sogar befugt, rechtliche Schritte zu gehen, um die Forderung erst zum Entstehen zu bringen. Wenn im Grunde also die Wahrnehmung einer Rechtsangelegenheit Gegenstand des Mandates ist und nicht nur die „technische“ Durchsetzung, dann stellen sich noch ganz andere, grundlegendere Fragen, wo die Grenze des Erlaubten überhaupt sein soll (dazu skizzenhaft schon https://www.lto.de/recht/juristen/b/legal-tech-bgh-lexfox-wenigermiete-berufsrecht-rdg-anwaelte-erfolgshonorar/ und demnächst eingehender in „Verbraucher und Recht“ Februar 2020).

Keine Interessenkollision

Auch ein zur Nichtigkeit der – behaupteten – Abtretungen führender Verstoß gegen § 4 RDG dürfte nach vorläufiger Einschätzung der Kammer des LG Braunschweig, an den Maßstäben der vorstehenden Entscheidung des BGH gemessen, nicht vorliegen. Insbesondere dürfte danach allein die Vereinbarung eines Erfolgshonorars einerseits und andererseits die Übernahme des Kostenrisikos – sei es im Rahmen einer Prozessfinanzierung, sei es als Risiko der Kostentragungslast als Prozesspartei – nicht zu einer Interessenkollision im Sinne des § 4 RDG führen (BGH, aaO. Rn. 103).

Das LG Braunschweig zitiert insoweit eine längere Passage aus dem LexFox-Urteil des BGH:

Gemessen an den vorbezeichneten Grundsätzen ist eine solche Gefährdung bei der vorliegend zu beurteilenden Forderungseinziehung – jedenfalls unter Berücksichtigung des Inhalts der hier zwischen der Klägerin und dem Mieter getroffenen Inkassovereinbarung – zu verneinen. Bei dem von der Revisionserwiderung für ihre gegenteilige Auffassung angeführten Gesichtspunkt der von der Klägerin im Falle einer Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen vorzunehmenden Kostenfreihaltung des Mieters handelt es sich schon nicht um eine „andere Leistungspflicht“ im Sinne des § 4 RDG, sondern vielmehr um einen Bestandteil der von der Klägerin für den Mieter zu erbringenden Inkassodienstleistung. Im Übrigen wird der von der Revisionserwiderung angeführten Gefahr, dass die Klägerin aufgrund der sie im Falle einer Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen treffenden Kostenbelastung geneigt sein könne, von einer ordnungsgemäßen und effektiven Durchsetzung der Ansprüche des Mieters insbesondere dann abzusehen, wenn dies einen hohen finanziellen Aufwand, etwa in Gestalt einer kostenintensiven Beweisaufnahme, erfordere, in hinreichendem Maße dadurch entgegengewirkt, dass sich die Vergütung der Klägerin für die Inkassodienstleistung gemäß Ziffer 3.1 ihrer Allgemeinen Geschäftsbedingungen nach der Höhe der durch ihre Tätigkeit ersparten Miete richtet. Diese Vereinbarung eines Erfolgshonorars bewirkt ein beträchtliches eigenes Interesse der Klägerin an einer möglichst erfolgreichen Durchsetzung der Ansprüche des Mieters. Der damit – jedenfalls weitgehend – vorhandene (prinzipielle) Gleichlauf der Interessen der Klägerin und des Mieters steht der Annahme einer Interessenkollision im Sinne des § 4 RDG entgegen“ (BGH, aaO. Rn. 196).

Gleichlaufende Interessen bei Geschädigtem, Rechtsdienstleister und Prozessfinanzierer

Bei Übertragung dieser Wertungen auf den vorliegenden Fall dürfte nach Einschätzung des Landgerichts ein Verstoß gegen § 4 RDG ausscheiden, denn jedenfalls dürfte auch hier ein „weitgehender prinzipieller Gleichlauf der Interessen“ der Klägerin und der Zedenten vorliegen. Dies dürfte, so das Landgericht, auch für einen etwaigen externen Prozessfinanzierer gelten. Denn jedenfalls dürfte auch insoweit ein vom BGH ausreichender „jedenfalls weitgehender, prinzipieller“ Interessengleichlauf vorliegen.

In der Tat, auch wenn die Verteidiger auf Seiten Volkswagen das immer in Abrede gestellt haben: Alle haben auf Angreiferseite das gleiche Ziel: zu obsiegen, sich rechtlich durchzusetzen. Und das mit einem möglichst hohen Forderungsbetrag. Davon hat primär der Geschädigte selbst etwas, dem davon der Löwenanteil zufällt. Aber auch der Rechtsdienstleister profitiert durch seine erfolgsbezogene Vergütung und der Prozessfinanzierer erhält seinen Anteil und muss keine Kosten erstatten. Dieses Prinzip ist so klar, dass die Gegenmeinung sich schon immer schwer getan hat, eine Konstellation zu finden, in der irgendwelche konkreten Gefahren erkennbar würden (exemplarisch die Diskussion auf https://www.lto.de/recht/juristen/b/myright-weniger-miete-legal-tech-berufsrecht-anwaelte-erfolgshonorar-prozessfinanzierung-rdg/).

Keine Sittenwidrigkeit

Schließlich dürften die – behaupteten – Abtretungen auch nicht nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig sein, so das Landgericht Braunschweig. Eine Nichtigkeit dürfte insoweit nicht daraus folgen, dass die Klägerin das Prozesskostenrisiko bewusst auf die Beklagte abwälze. Zwar könne nach einer Entscheidung des LG Düsseldorf (Urteil vom 17.12.2013 – 37 O 200/09 (Kart) ) eine Abtretung nach § 138 BGB dann nichtig sein, wenn eine Partei nicht über eine finanzielle Ausstattung verfüge, welche die im Fall des Prozessverlustes von ihr zu tragenden Prozesskosten, insbesondere die Kostenerstattungsansprüche der anderen Partei, vollständig deckten und die Partei und die Zedenten durch eine bewusste Verlagerung des Prozesskostenrisikos auf die andere Partei die Gefahr schüfen, dass diese – zumindest mit einem erheblichen Teil – ihrer Kostenerstattungsansprüche im Fall des Obsiegens ausfalle, ohne dass dies durch berechtigte Interessen gerechtfertigt sei (LG Düsseldorf aaO., Rn. 78).

Dafür, dass ein solcher Fall einer bewussten Risikoverlagerung hier vorliegen würde, sei, so das Landgericht, nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand nichts ersichtlich. Denn jedenfalls gebe es vorliegend – anders als in dem vom LG Düsseldorf zu entscheidenden Fall – keinerlei Anhaltspunkt für ein etwaiges kollusives Zusammenwirken der Braunschweiger Klägerin mit den Zedenten zum Zweck der Risikoverlagerung auf die Beklagte.

Das Landgericht hält die Rechtslage insoweit für so eindeutig, dass es auf eine eigene mündliche Verhandlung nur zu diesem Thema verzichtet. In dem Hinweisbeschluss heißt es dazu, nach dem Vorstehenden sei nach derzeitiger Einschätzung der Kammer des LG Braunschweig „eine – von der Beklagten angeregte – vorgelagerte Verhandlung zunächst nur über die Frage der Wirksamkeit der Abtretungen nicht prozessökonomisch sinnvoll“. Auf Deutsch: Die Zeit ist zu schade, um darüber noch lange zu sprechen. Das sitzt.

Ausblick

Die Beklagte erhält nunmehr Gelegenheit zur (weiteren) Klageerwiderung binnen einer Frist von 3 Monaten. Danach wird voraussichtlich ein Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt. Der Ausgang ist, was die berufsrechtlichen Fragen angeht, vorgezeichnet.

Damit ist das LG Braunschweig dem BGH in dessen freiheitsfreundlicher Auslegung der berufsrechtlichen Vorschriften, insbesondere des RDG, gefolgt. Weitere Argumente der LegalTech-Gegner, etwa dass das anwaltliche Berufsrecht (BRAO) auf Inkassounternehmen entsprechend anwendbar sein könnte (das bedeutet: Verbot des Erfolgshonorars etc.), erschienen dem Gericht offenbar keiner Erwähnung wert. MyRight hat damit für ihre „Sammelkläger“ einen wichtigen Etappensieg errungen, die erste Schlacht ist zu ihren Gunsten ausgegangen. Damit steigen die Chancen der Geschädigten, ihre Ansprüche auf diesem Wege durchzusetzen. Und das Berufsrecht ist wieder ein Stück weit liberaler und zeitgemäßer geworden.

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