Durch die gelinde gesagt, überraschende Rechtsprechung des EuGH in Belangen des Arbeitsrechts, hat die Praxis in Deutschland inzwischen gelernt, daß neben anderen Instituten auch das Urlaubsrecht bisher nicht EU-konform angewandt worden ist und darauf mit der Notwendigkeit zur Differenzierung zwischen gesetzlichem Mindesturlaub gem. § 3 I BUrlG und vertraglich oder tariflich gewährtem Mehrurlaub, reagiert.
Diese unterschiedliche Würdigung von Urlaubsansprüchen ist kürzlich durch ein weiteres Urteil mit kostenträchtigen Folgen für die deutsche Wirtschaft, herausgestellt worden:
Zunächst: Was hat der EuGH Neues entschieden ?
Mit seinem Urteil C-684/16 vom 06.11.2018 hat die Große Kammer des EuGH entschieden, daß Art. 7 der RL 2003/88 im Licht von Art. 31 II Grundrechte-Charta dahin auszulegen seien, daß sie der Regelung eines Mitgliedsstaats entgegenstehen, die den automatischen Verfall nicht genommenen Urlaubes entweder zum Ende des Urlaubsjahres oder zumindest bis zum 31.03. des auf dieses nachfolgenden Jahres, vorsieht. Genau dies aber regelt § 7 III BurlG, jahrelang bestätigt in ständiger Rechtsprechung des BAG. Der EuGH stellt für diesen Fall auch ausdrücklich klar, daß es zukünftig den nationalen Gerichten verwehrt sei, den aufgestellten Grundsätzen widersprechende nationale Gesetze anzuwenden – sprich: die gesetzlichen Verfallsfristen sind zumindest für den Mindesturlaub nicht mehr oder nur noch eingeschränkt anwendbar.
Die Entscheidung betraf den Rechtstreit eines ausgeschiedenen Arbeitnehmers gegen die Max-Planck-Gesellschaft, die ihm die Abgeltung für nicht genommenen Jahresurlaub unter Verweis auf die bisher gängige Rechtsprechung, verweigerte.
Der EuGH stellte fest, daß das Recht eines jeden Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Europäischen Union sei, den die nationalen Stellen nur in den Grenzen der besagten Richtlinie umsetzen dürften. Dies sei auch in der Grundrechte-Charta ausdrücklich verbürgt. Aus diesem Grundsatz folge insbesondere, daß der Arbeitnehmer für nicht genommenen Urlaub bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses finanziell abzugelten sei. Dieser Anspruch sei auch vererblich, wobei das BAG kürzlich in 9 AZR 149/17 am 22.01.2019 entschieden hatte, daß auch die Erben zumindest tarifvertragliche Ausschlußfristen gegen sich gelten zu lassen haben.
Weiterhin konstatiert der EuGH in dieser Entscheidung eine schwächere Position des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber, die es möglich erscheinen lasse, daß der Arbeitnehmer die Durchsetzung seines Urlaubsanspruches evtl. nicht energisch genug verfolgen könne und somit aus Unwissenheit die Folge des Verfalles auslösen könnte. Damit verstoße jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten könnte, seinen Anspruch geltend zu machen, gleichfalls gegen die benannten Grundsätze. Um effektiv den Anspruch des Arbeitnehmers zu wahren, sei es daher geboten, den Arbeitgeber zu verpflichten, den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – aufzufordern, seinen Urlaub zu nehmen und ihm klar und rechtzeitig mitzuteilen, daß der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugszeitraumes oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird. Die Beweislast für die Erfüllung beider Anforderungen liege beim Arbeitgeber.
Das BAG hat mit dem Urteil 9 AZR 423/16 am 19.02.2019 diese Rechtsprechung umgesetzt und hinzugefügt, daß der nicht verfallene Alt-Urlaubsanspruch auf den neu entstandenen Anspruch für das Urlaubsjahr anzurechnen sei mit der Folge, daß ein neuer Gesamtjahresurlaubsanspruch entstünde, der den gleichen Regelungen unterliege und bei Verletzung der Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ebenfalls nicht verfallen würde.
Was folgt aus diesen Vorgaben für das deutsche Arbeitsrecht ?
Der EuGH verpflichtet Arbeitgeber, ihre Arbeitnehmer darauf hinzuweisen, daß ihr gesetzlicher Mindesturlaub im Urlaubsjahr zu nehmen ist und andernfalls verfallen wird. Die Erfüllung dieser Obliegenheit ist seitens des Arbeitgebers zu beweisen.
Wird diese Obliegenheit nicht erfüllt bzw. kann der Arbeitgeber die Erfüllung nicht beweisen, kommt der Alturlaub zu dem neuen Jahresurlaub hinzu und verfällt bei entsprechendem Unterlassen des Arbeitgebers erneut nicht. Diese Addition wiederholt sich Jahr für Jahr mit der Folge, daß keine Verjährung eintreten kann, da der (addierte) Anspruch jedes Jahr neu entsteht.
Die Gesamturlaubsansprüche sind vererblich, so daß nicht nur das Ausscheiden eines Arbeitnehmers, sondern auch sein späteres Ableben in die Kalkulation einzubeziehen ist.
Unternehmen sollten daher entsprechende Rückstellungen bilden und die so aufgelaufenen Ansprüche werden auch in Veräußerungsfällen bzw. bei Betriebsübergängen zu berücksichtigen sein.
Einen Praxistipp für Rechtsanwender hat das BAG auch gleich mit der Entscheidung 9 AZR 321/168 vom 19.02.2019 gegeben, in dem es ausdrücklich klar gestellt hat, daß vorbenannte Anforderungen auch im Kündigungsschutzverfahren gelten sollten. Die Hinweisobliegenheiten und ggf. Addition der Urlaubsansprüche bestehen daher auch im gekündigten Arbeitsverhältnis fort.